Paarberatung

Wie geht Liebe im Alter?

Nach Kindern und Arbeitsleben werden Beziehungen noch mal auf die Probe gestellt. Ergibt das mit uns beiden überhaupt noch Sinn, fragt sich ein Paar Mitte sechzig. Die Therapeutin räumt mit einigen Klischees auf.

Einen Satz höre ich in letzter Zeit immer öfter von Menschen jenseits der sechzig: „Ich weiß nicht, ob wir zusammenbleiben sollen.“ Tatsächlich hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Scheidungsrate von Ehen, die länger als 25 Jahren gedauert haben, mehr als verdoppelt. Das Paar, von dem ich hier erzählen möchte, war zwar noch keine 25 Jahre, sondern erst zwölf verheiratet – für beide war es die zweite Ehe –, aber es war ebenfalls Mitte sechzig und befanden sich in der sogenannten dritten Lebensphase. Für Beziehungen ist das oft eine schwierige Zeit, denn wenn die Kinder aus dem Haus sind, und die berufliche Phase abgeschlossen ist, müssen Partnerschaften neu definiert werden.

Es war die Frau, die mich kontaktierte und am Telefon obigen Satz sagte. Es gebe viel Streitereien, jeder versuche nur noch, seine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen.

Zur ersten Sitzung kamen sie zusammen. Sie war 67, eine attraktive Frau, die selbstbewusst und entschlossen wirkte. Bis zur Rente hatte sie als Ärztin gearbeitet, aus ihrer ersten Ehe hatte sie zwei erwachsene Kinder. Er war 66 und wirkte deutlich zurückhaltender. Aus erster Ehe hatte er drei ebenfalls erwachsene Kinder. Vor Kurzem hatte er sich aus seinem Architekturbüro zurückgezogen.

Die Praxis betraten beide mit erwartungsvollem Blick. Sie wählten nicht die beiden Sessel, sondern die Zweisitzer-Couch, die dazwischen stand. Dort nahmen sie so viel Abstand wie möglich ein – also nicht wirklich viel. „Was sind Ihre Wünsche an eine Paartherapie?“, fragte ich. Die Frau antwortete zuerst: „So wie es ist, kann es auf keinen Fall bleiben. Wir streiten so viel, haben ständig Stress miteinander. Trotzdem würde ich gerne einen weiteren gemeinsamen Weg finden, denn wir hatten auch schöne Zeiten zusammen.“ Er war ähnlich ambivalent: „Ich will nicht mehr mit ihr, aber irgendwie auch nicht ohne sie.“ Das Problem: Ihre Erwartungen an die jetzige Lebensphase waren sehr unterschiedlich. Sie wollte, bevor hoffentlich Enkel kommen würden, noch einmal viel reisen, ausgehen und die Freiheit genießen, nach all den Jahren der beruflichen Belastungen und des Kümmerns, zunächst um die Kinder, dann um die eigene pflegebedürftige Mutter. Er wollte in erster Linie seine Ruhe haben und nach den vielen stressigen Berufsjahren erstmal runterkommen.

Eigentlich könnten Paare in der besagten dritten Lebensphase wieder mehr Zeit miteinander verbringen. Doch gerade dann, wenn man endlich frei von äußeren Vorgaben ist und alle Zeit der Welt hat, stellen sich viele Menschen essenzielle Fragen: Was will ich noch erleben? Was möchte ich noch lernen? Wie will ich leben? Aber auch: Was habe ich im Leben versäumt und werde es vielleicht auch nicht mehr erleben? Für die einen ist das eine große Chance, für die anderen eine kaum zu bewältigende Herausforderung, die zu großer innerer Traurigkeit, Leere und Sinnlosigkeit führen kann. Die eigene Unzufriedenheit führt dann häufig zu Auseinandersetzungen in der Partnerschaft. Hinzu kommen oft erste gesundheitliche Beeinträchtigungen. Jeder versucht, seinen Weg aus dieser mitunter belastenden Zeit zu finden.

Aus Erfahrung weiß ich: Oft sind widersprüchliche Wünsche wie bei diesem Paar nicht zwingend ein Hinweis auf das nahende Ende einer Beziehung, sondern erst mal ein Verlangen nach Veränderung. Eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage, warum so viel Unzufriedenheit da ist, lässt die Menschen klarer erkennen, um was es ihnen wirklich geht.

Bei dieser Auseinandersetzung wollte ich das Paar begleiten. Der Leidensdruck schien bei beiden ähnlich hoch zu sein. Anfänglich, so beschrieben sie es, hätten sie eine sehr innige Beziehung gehabt. „Wir haben regelmäßig zusammen Tennis gespielt, hatten intensive Gespräche in unserem Lieblingsrestaurant. Wir unternahmen kleine Reisen“, so beschrieb sie diese Zeit. Jeder hatte die Hoffnung, nach der gescheiterten Ehe eine zweite, glückliche Partnerschaft zu führen und in einer toleranten Patchwork-Familie zu leben. Seinen Wunsch, zusammenzuziehen, erwiderte sie zwar nicht, auch dann nicht, als ihre Kinder – sie waren zu Beginn der Partnerschaft Anfang 20 – ausgezogen waren. Doch sie wohnten nah beieinander und trafen sich regelmäßig, mal bei ihr, mal bei ihm.

Beide empfanden ihren Alltag allerdings auch nach dem Auszug der Kinder als anstrengend. Bei ihm war es vor allem beruflicher Stress: Er führte ein Architekturbüro mit mehreren Mitarbeitern, die große wirtschaftliche Verantwortung ließ ihn nachts oft nicht schlafen. Sie arbeitet halbtags in einer Klinik und musste sich zusätzlich um ihr pflegebedürftige Mutter kümmern, mit der es immer wieder Probleme gab. Für sie war das eine erhebliche Belastung. Auch in dieser Hinsicht war das Paar ein sehr typischer Fall, denn Stress im Alltag ist für alle Partnerschaften, egal, welchen Alters, ein Beziehungskiller. In ihrer freien Zeit sind die Partner oft so erschöpft, dass es zu konstruktiven Auseinandersetzungen miteinander kaum noch kommen kann. Jeder befriedigt nur noch die eigenen primären Bedürfnisse und ist nicht mehr in der Lage, den Partner mit seinen Wünschen zu sehen oder gar zu berücksichtigen. Entfremdung ist sozusagen die logische Konsequenz.

Eigentlich wisse sie heute gar nicht mehr, wie es ihrem Mann gehe, sagte die Frau. „Er war noch nie jemand, der viel gesprochen hat, schon gar nicht über Gefühle. Geredet hab’ meistens ich, aber inzwischen sprechen wir fast gar nicht mehr miteinander, auch wenn wir uns ja extra verabreden müssen, um uns zu sehen, was wir auch immer noch tun. Ich ertrage dieses Schweigen nicht länger.“ Er rechtfertigte sich: „Ich hatte im Job so viel Druck. Wenn ich mit meiner Frau zusammen bin, möchte ich mich endlich entspannen und nicht noch Probleme wälzen.“ An diesem Verhalten hatte er offensichtlich auch nach seinem Ruhestand nichts geändert.

In der zweiten Sitzung lag der Fokus noch mal intensiver auf dem Beginn ihrer Beziehung. Mir ist wichtig, in meinen Klienten erneut wachzurufen, welche Gefühle, Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen sie damals hatten. Er sagte: „Ihre Lebendigkeit, ihre Fröhlichkeit fand ich sofort sehr anziehend. Außerdem hat sie auf mich so selbständig und stark gewirkt. Wie eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht.“ Sie sagte: „Als ich ihn zum ersten Mal auf einem Fest bei Freunden getroffen habe, ist mir gleich diese Ruhe aufgefallen, die er ausgestrahlt hat. Nach meinen turbulenten Scheidungsjahren war das genau das, wonach ich suchte, so eine Art sicherer Hafen. Das habe ich bei ihm gefunden. Zumindest am Anfang waren da viel Nähe und Geborgenheit.“

Dass das Hervorrufen der alten Gefühle etwas mit ihnen machte, konnte man sehen: Ihre Körper und Blicke waren zugewandter, sie unterbrachen sich nicht mehr, um die eigene Position zu verteidigen. In dieser Sitzung wurden die anfänglichen Visionen sehr deutlich, aber auch, dass diese Wünsche weder für ihn noch für sie in Erfüllung gegangen waren.

Die Erfahrung zeigt leider, dass geliebte Verhaltensweisen und Eigenschaften sich auf Dauer oft ins Gegenteil verdrehen: Sie empfand ihn inzwischen nicht mehr als ruhig, sondern als introvertiert und verschlossen. Auch für ihn war die anfängliche Vitalität und stets motivierende Haltung seiner Frau nun eher störend und nervig. Wie sich denn aus ihrer Sicht wieder mehr Nähe herstellen lasse, wollte ich wissen. Beide überlegten kurz, dann sagte er: „Unter Druck verschließe ich mich. Ich hätte gerne eine entspannte Zeit mit meiner Frau ohne viel zu reden. Wir könnten zum Beispiel einen regelmäßigen Saunatag planen.“ Dadurch würden, seiner Meinung nach, auch wieder mehr Gespräche und mehr Nähe zu seiner Frau entstehen. Sie hingegen sagte: „Ich kann Nähe nur dann herstellen, wenn ich etwas über einen Menschen weiß. Ich muss wissen, wie es dir geht, was dich umtreibt. Nur über Alltagsdinge mit dir zu sprechen, das reicht mir nicht.“ Denn nur dann, so sagte sie, könne sie das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit wieder spüren. Beide konnten sich in dieser Sitzung gut zuhören. Sie verstand, dass er das Gefühl hasste, ausgefragt zu werden. Er wiederum verstand, wie wichtig es für sie war, mehr über seine emotionale Innenwelt zu erfahren.

Dieser Teil der Beratung liegt mit besonders am Herzen, denn es ist für mich der wichtigste: Sich zuzuhören, gegenseitiges Verständnis zu entwickeln, ohne – und das ist essenziell – grundsätzlich einverstanden sein zu müssen. Das macht den großen Unterschied. Es geht also nicht um Kommunikationstechniken, sondern um ein tieferes wechselseitiges Verstehen. Bis zur nächsten Sitzung wollten beide versuchen, sensibler mit den Bedürfnissen des/der anderen umzugehen.

Die dritte Sitzung nutzten wir, um uns anzuschauen, was die beiden aus ihren Herkunftsfamilien über Beziehungen gelernt hatten – es waren sehr unterschiedliche Dinge. In seiner Familie war es recht distanziert zugegangen. Über Gefühle wurde kaum miteinander gesprochen. Bei ihr hingegen gab es starke Beziehungen, nicht immer konfliktfrei, aber mit großem Interesse füreinander. Ihm wurde dadurch noch mal viel bewusster, warum ihr die tiefen Gespräche wichtig waren. Und sie verstand mehr und mehr, dass sein Schweigen kein Zeichen von innerer Distanz war, sonders für ihn ein völlig normales Verhalten.

An dieser Stelle wird die Akzeptanz sehr wichtig, denn wir alle müssen in unseren Beziehungen auch mit Eigenschaften des Partners zurechtkommen, auf die wir eigentlich gerne verzichten würden. Oft erlebe ich aber, dass Paare sehr tradierte Bilder einer gelungenen Partnerschaft haben: Alles soll so sein, wie im Film. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass man auch in einer Partnerschaft glücklich werden kann, wenn man nicht zusammenwohnt, sein Hobby nicht (mehr) mit dem Partner teilt – etwa aus gesundheitlichen Gründen – oder der andere lieber alleine schlafen oder vereisen will.

Wenn wir akzeptieren können, dass es den idealen Partner, die ideale Partnerin nicht gibt, aber noch ein Grundstock an Liebe füreinander, Respekt und Anerkennung vorhanden sind, dann ist ein wichtiger Schritt getan. Haben wir im Gegenteil das Gefühl, all das fehlt und der andere arbeitet bewusst gegen uns, bleiben wir ständig in einer Verteidigungshaltung. Das führt über kurz oder lang meist zur Trennung.

Wollte das Paar also zusammenbleiben, musste es lernen, die Eigenheiten des anderen zu akzeptieren – und noch wichtiger: damit umzugehen. Das hatten sie all die Jahre nicht wirklich in Betracht gezogen, sondern vielmehr versucht, den anderen zu ändern. Denn die Unterschiede bezüglich des Sprechens und Schweigens waren in der Partnerschaft ja von Beginn an vorhanden.

Natürlich ist das mit der Akzeptanz oft leichter gesagt als getan und gelingt nicht immer, denn die Bedürfnisse an die Partnerschaft und die Werte, die uns wichtig sind, entwickeln und verändern sich im Laufe der Jahre. Die Frage „Trennen oder bleiben?“ kann sich immer wieder stellen. Gründe, warum Paare trotz Streit und Spannungen zusammenbleiben, gibt es viele: Neben den Kindern – vor allem bei jüngeren Paaren das Hauptmotiv – sind das vor allem wirtschaftliche Abhängigkeit, die Angst, zu Scheitern oder die Angst, alleine zu leben, nach dem Motto „lieber gemeinsam einsam“ als im Alter alleine.

Ich sagte beiden: „Es ist wichtig eine bewusste Entscheidung zu treffen.“ Also nicht trennen, auch wenn dafür eigene Wünsche teilweise unerfüllt bleiben würden. Oder trennen, weil der persönliche Preis, den man bezahlte, um zu bleiben, zu hoch sein würde. Außerdem sprachen wir darüber, wie wichtig es für eine Beziehung ist, immer wieder am eigenen Selbst zu arbeiten, ein gutes Selbstwertgefühl zu haben. Denn unabhängig vom Alter ist eine Beziehung dann besonders stabil, wenn zwei zufriedene Partner zusammen sind und jeder für sich stehen kann.

Die vierte Sitzung fand sechs Wochen später statt. Da die eigentliche Arbeit bei einer Paartherapie immer zwischen den Sitzungen geschieht, bevorzuge ich mehrwöchige Abstände, mindestens aber zwei Wochen. Beide erklärten, dass sie ihr Modell – Living apart together – gerne fortführen würden. Sie berichteten, wie spannend es für sie war, nach zwölf Jahren mehr voneinander zu erfahren und den anderen besser zu verstehen, besonders unter dem Aspekt „Verstehen heißt nicht einverstanden zu sein“. Sie hatten sich dafür in den vergangenen Wochen extra Zeit genommen, waren gemeinsam in der Sauna und hatten feste Gesprächszeiten vereinbart.

Außerdem erarbeiteten wir eine Art Werte-Gerüst für ihre Beziehung, wie viel Nähe, wie viel Autonomie brauchte jeder? Ich hatte in dieser Sitzung zum ersten Mal das Gefühl, dass nicht mehr jeder sein eigenes Bild malte, sondern sie zusammen vor der Staffelei standen und gemeinsam ein Bild malten.

Ich habe seitdem nichts mehr von beiden gehört, aber ihnen angeboten, dass sie sich jederzeit wieder melden können. Der Beratungsprozess dauert für mich immer so lange, bis beide mit den Konsequenzen der Entscheidung leben können – egal, ob zusammen oder getrennt.

Katrin Normann ist Diplom-Sozialpädagogin und leitete 23 Jahre lang eine Ehe- und Familienberatungsstelle in München. Heute arbeitet sie dort in eigener Praxis vor allem in den Bereichen Akzeptanz-Therapie, Trennungs- und Scheidungsberatung sowie Beratung von Menschen in Lebensübergängen.

Ohne Vertrauensverhältnis ist therapeutisches Arbeiten nicht möglich. Die Therapeutinnen und Therapeuten, die in dieser Serie von ihren Fällen berichten, haben deshalb das Einverständnis ihrer Klienten und Klientinnen eingeholt, ihre Geschichten zu erzählen. Um die Anonymität zu wahren, wurden Details verändert. Die Dialoge der Klienten und Klientinnen sind nachempfunden.